Birmenstorf im 20. Jahrhundert «Ganz nöch a der Rüüss a me sonnige Rai…»

Nun liegt die druckfrische Birmenstorfer Ortsgeschichte vor. Sie führt in Text und Bild durch das vergangene 20. und das noch junge 21. Jahrhundert. Alle wesentlichen Themen der rasanten Veränderung Birmenstorfs werden angeschnitten – vom Kleinbauerndorf zwischen Rebberg und Reuss bis zur ausgesuchten Wohnlage mit besten Verkehrsanbindung und Abendsonne.

Das vierköpfige Autorenteam präsentiert seine Ergebnisse nach über vierjähriger Arbeit in Archiven und Bibliotheken sowie vielen Gesprächen mit Einwohnerinnen und Einwohnern. Ein Fotoportrait hält die aktuelle Situation fest.

Die 272-seitige, reich bebilderte Ortsgeschichte kann für 25 CHF auf der Gemeindekanzlei Birmenstorf abgeholt werden; bei telefonischer oder elektronischer Bestellung kostet sie inklusive Verpackung und Versand 32 CHF. (Gemeindekanzlei Birmenstorf: gemeindekanzlei(at)birmenstorf.ch; 056 201 40 65).

Das „Birnbaumdorf“ an der Reuss

Birmenstorf im Bezirk Baden liegt als zweitunterstes Dorf am sonnigen rechten Ufer der Reuss, erhöht auf einer eiszeitlichen Schotterterrasse. Der gegen Westen und Süden geneigte Gemeindebann von rund acht Quadratkilometer Fläche zählt geologisch je zur Hälfte zum Jura und zum flacheren Mittelland. Von der tiefsten Stelle am Fluss mit weniger als 340 m. ü. M. steigt das Gebiet bis 573 m. ü. M. beim „Lang Marchstei“ an. Der Dorfkern mit dem Kirchenbezirk liegt auf 382 m. ü. M. Die alte Siedlungsstruktur mit ihren Hofweiden lässt sich wegen der regen Bautätigkeit seit 1950 nur noch erahnen.

Zur Gemeinde zählen zudem die Aussenhöfe Muntwil und Müslen, Ödhus, Hardwinkel Oberhard und die am Fluss gelegene Lindmühle. Das auf dem anderen Reussufer gegenüber liegende Mülligen gehört bereits zum Bezirk Brugg. Die Reuss bildete hier von 1415 bis 1798 die Grenze zwischen dem Berner Stadtstaat und der ehemaligen Grafschaft Baden, die als Gemeine Herrschaft in Form eines Untertanengebiets zur Eidgenossenschaft zählte. Die Staatsgrenze wirkt bis heute nach, bildet doch die Reuss in diesem ersten Abschnitt ein Teil einer bedeutenden kulturellen Scheidelinie, die sich von der Reuss über den Napf bis zum Brünig zieht. Die Birmenstorfer jassen mit deutschen Karten, die Mülliger mit französischen. Rechtsufrig spricht man in der alten Mundart von „herz, berg und schtern“, linksufrig von „härz, bärg und schtärn“.

Wohl die wichtigste Unterscheidung besteht dagegen in der Frage der Konfession. Der Bezirk Brugg zählt zum traditionell protestantischen Berner Aargau, während der Bezirk Baden mehrheitlich römisch-katholisch blieb. Ausnahmen bilden wenige paritätische Gemeinden, in denen seit der Reformation im 16. Jahrhundert ein protestantischer und ein katholischer Bevölkerungsteil Seite an Seite leben. In der ehemaligen Grafschaft Baden zählen dazu Birmenstorf und die Nachbargemeinde Gebenstorf, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vom Kloster Königsfelden aus verwaltet wurden. So waren zwei Geistliche für beide Dörfer zuständig und standen gleichzeitig den örtlichen paritätischen Kirchen vor, die beide Konfessionen nutzten. Der protestantische Prädikant residierte in Gebenstorf, der katholische Priester in Birmenstorf. Die Auseinandersetzung zwischen den Konfessionen wirkte bis in das späte 20. Jahrhundert nach.

Pfeilspitzen, andere Streufunde und ein Wagengrab weisen darauf hin, dass Menschen auf dem rechten Ufer der Reuss bereits in der Steinzeit durchzogen und jagten. Erst aus der römischen Zeit liegen Bodenfunde und damit eindeutige Beweise von menschlichen Behausungen vor. Die beiden römischen Gutshöfe am „Boll“ und am „Huggebüel“ zählten zum wirtschaftlichen System des nahen Legionslagers Vindonissa, das seit dem Jahr 17 nach Christus angelegt und erweitert wurde. Zwei spätantike Münzendepots, unweit der Lindmühle gefunden, zeugen von der Verunsicherung durch die alemannische Übermacht. Die Alemannen sind es denn auch, auf die die Anfänge des heutigen Dorfes im 6. Jahrhundert zurückgehen. Sie legten die Lage der ersten Siedlung fest, wahrscheinlich ein fränkischer Herrenhof, und benannten sie. Nicht eine Person lieh dem Ort ihren Namen, sondern ein Baum. Der Reisebericht des Zisterzienserabtes und Kreuzzugspredigers Bernhard von Clairvaux (1091–1153), der im November 1146 durch die Gegend zog, erwähnt zum ersten Mal „Birbovermesdorf“ – das Dorf beim Birnbaum. Ähnliche Ortsnamen finden sich mit Birr, Nussbaumen oder Buchs in der näheren Umgebung.
 

Im hohen Mittelalter übten die Lenzburger (bis 1172) und die Kyburger die Grundherrschaft aus, die Birmenstorf gegen 1250 grösstenteils an die Herren von Liebegg verliehen. 1363 verkaufte Rudolf von Trostberg seine Rechte an die habsburgische Königin Agnes von Ungarn, die das Dorf und die Einkünfte daraus dem Kloster Königsfelden stiftete. Vor der Aufhebung des Klosters im Zuge der Reformation gelangte es im Jahre 1415 in den Besitz von Bern, das fortan die Niedere Gerichtsbarkeit über Diebstahl und kleinere Verbrechen wahrnahm. Auch nach der Reformation reichte der lange Arm des Stadtstaates Bern über die Reuss nach Birmenstorf. Diese Situation dauerte bis 1798 an, als die Helvetische Republik der eidgenössischen Vorherrschaft im Aargau ein Ende setzte und die Birmenstorfer zu freien und gleichberechtigten Bürgern machte.

Die Industrialisierung setzte im östlichen Kantonsteil in den 1830er Jahren ein. Erste Textilbetriebe in Windisch und Baden nahmen vereinzelte Birmenstorferinnen und Birmenstorfer in Stellung. Doch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden in Baden metallverarbeitende Fabriken, deren Arbeitsangebot für Fabrikarbeiter mit einem kleinen Bauernbetrieb attraktiv war. Brown und Boveri gründeten 1891 ihre BBC, welche die Region Baden auch gesellschaftlich umkrempelte. Manche Birmenstorfer kamen mit BBC als Monteure und gefragte Fachkräfte in alle Welt.

Die ursprünglich auf Getreidebau ausgerichtete Landwirtschaft (300 ha Äcker, Weiden und Wiesen) stellte im 19. Jahrhundert auf Milchwirtschaft um. Sie stellte sich mit den Spezialkulturen Gemüse (100 ha) und Wein (11 ha) auf die verschärfte Konkurrenz ein. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verbesserte sich die wirtschaftliche Situation der Region in dem Mass, dass in Birmenstorf erste Neubauten ausserhalb der traditionellen Siedlungsstruktur entstanden. Diese Tendenz verstärkte sich nach 1970. Seit damals quert die Autobahn (A1) zwischen Zürich und Bern den Gemeindebann. Die nötig gewordene Güterregulierung zerstörte die mittelalterliche Feldstruktur. Der Siedlungsdruck ist nach wie vor gross. Trotzdem haben sich zahlreiche Vielzweckbauernhäuser erhalten, die mit Woh­nung, Tenne und Stall unter einem Dach von der bäuerlichen Vergangenheit zeugen. Auch der neuneckige Dorfbrunnen aus dem Jahre 1574 mit den Wappen der Acht Alten Orte und eine Handvoll Wegkreuze erzählen vom dörflichen Leben zwischen Werk- und Sonntag. Als Bau­denkmal bildet der Chor der alten paritätischen Pfarrkirche mitten auf dem Friedhof eine kunsthistorische Perle. Der hochgotische Freskenzyklus aus dem 15. Jahrhundert sucht weitherum seinesgleichen. (Patrick Zehnder)

Drei Bücher befassen mit der Birmenstorfer Geschichte und sind auf der Gemeindekanzlei erhältlich:

  • Max Rudolf: Geschichte der Gemeinde Birmenstorf. Aarau 1983/91.
  • Patrick Zehnder: Die drei Kirchen von Birmenstorf. Kunstführer der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte. Bern 2007.
  • Patrick Zehnder, Stefan Michel, Patrick Schoeck-Ritschard, Corinne Rufli, Christine Seiler: Birmenstorf im 20. Jahrhundert. «Ganz nöch a der Rüüss, a me sonnige Rai…». Baden 2015.